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Darf Ich Sie Zeichnen

Darf ich Sie zeichnen?
Prominente und Unbekannte, Reportage mit Zeichnungen von Christine Böer
erschienen 1984 im Kabel Verlag

Vorwort
Absurd, daß man im Zeitalter des Knöpfchendrucks mit der langsamen Zeichenfeder eine
Situation, ein Menschengesicht erfassen möchte. Aber nicht nur die Tatsache, daß man beim Zeichnen weglassen und übertreiben kann, war bestimmend für mein Interesse. Die offenbare Mühe beim Zeichnen schaffte eine ganz andere Ausgangssituation als der Druck auf den Knopf eines Apparates.
So machte ich eine Reise um die Ecke in einen der älteren Stadtteile meiner Stadt und zeichnete mich ”von der Toilettenfrau bis zum Bürgermeister“ durch, nur dem Zufall gehorchend und dem Glück des Findens. Ab einem bestimmten Spielsalon ”Hein Daddel Nr.1“ begann für mich das Land der Überraschungen. Und bei jeder Busstation, bei jedem Waschsalon wurde das Bild der Menschen farbiger und verschiedenartiger. Die Gezeichneten offenbarten Individualität, ihre Gesichter gewannen Schärfe für mich und nötigten mir Mitfühlen ab. Meine Wand zu Hause füllte sich mit Darstellungen von Menschen, die mich anblicken, und ich sage mir heute:
Kein noch so perfektes Medium kann uns das direkte Erleben, Sehen und Anfassen ersetzen.

Das Buch enthält 128 Seiten mit 100 Zeichnungen. Die wenigen verbliebenen Exemplare sind
nur über die Autorin zu beziehen zu einem Preis von Eur 27,– incl. Versand und Mehrwertsteuer
Sie können über die Kontaktseite bestellen.

Darf ich Sie...Sanierungsbeauftragter

Beim Sanierungsbeauftragten im Rathaus. Oberste Etage. Hinter dem Schreibtisch ein Mann in Strickjacke und nicht dazu passendem Hemd. Ob Sanierung vorwiegend etwas mit Abreißen zu tun habe, frage ich. Die kleine Planierraupe auf dem Schreibtisch scheint es zu belegen.
Doch wird bald klar, in welcher Zwickmühle und Pufferfunktion sich ein Sanierer befindet. Neubauten seien leichteres Kapital als ein in stand zu setzender rotter Altbau– am leichtesten sei eine Spielhalle zu genehmigen, erklärt Herr Seeler. Bei einem Stadtteilgang springt ins Auge, wie verschiedenartig die gewachsene Architektur einer Großstadt sein kann, angefangen von Biedermeierbauten über Gründerjahrfassaden, Jugendstil, Art Deco und der Neuen Sachlichkeit bis hin zur Gigantomanie der Nachkriegszeit. ”Das Handwerk wird wieder mehr Bedeutung erlangen“ glaubt der Sanieungsbeauftragte. Sanierung bedeute nicht nur Renovieren, Fassaden streichen und anschließende Begrünung. Es wäre ein geduldig zu suchender Ausgleich der Interessen– ein Prozeß, der sich über Generationen hinziehen würde.

Darf ich Sie...Tätowierer

In der ältesten Tätowierstube der Welt
Mitte April bin ich in der ”ältesten Tätowierstube der Welt“ bei Tatoo. Unangemeldet platze ich mitten in die Arbeit. Ein Seemann wird gerade übertätowiert, d. h. über eine etwas abgeblaßte Zeichnung kommt eine frische; über ein Seegelschiff ein Adler mit einem Herzen in der Mitte. ”Tut das nicht weh?“ frage ich den Kunden. Er lacht ”Ach was, ich bin schon dran gewöhnt“

Der Tätowierer wirkt wegen seiner blau tätowierten Arme vollkommen angezogen, obwohl er nur ein T-shirt trägt. Er arbeitet ruhig und präzis. Nach dem Zeichnen verteilt der ”Gärtner“ Farbe auf die markierten Partien. Aber sein Name hat nichts damit zu tun. Das wird mir klar, als der baumlange Mensch ein Fenster zum Innenhof öffnet, in dem ein winziger Garten prangt. ”Die hängenden Gärten der Semiramis“ wundere ich mich. ”Ich bin wohl der einzige hier in St. Pauli, der sechs echte Hühner zu laufen hat“ schmunzelt der Gärtner. Vor kurzem sei ihm ein Fasan zugeflogen, vom Fischmarkt– und er habe ihn aufgepäppelt. Als er wegflog, sei es ihnen zu einsam gewesen, und er habe sich die Hühner zugelegt.
”Wir hier stehen alle auf zwei Beinen, der eine mit Hühnern, und der andre mit Rauschgift“ das letzte murmelt er nur. ”Kommen Sie wieder, wenn hier im Hof der Flieder blüht“ fügt er hinzu, ”Und vergessen Sie nicht, sich den blühenden Kirschbaum an der großen Freiheit anzusehen!“

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